
Markus lässt die Hosen runter

Mein Name ist Markus. Noch bin ich 55 Jahre alt. Das heißt, eigentlich bin ich zu alt für das Internet und den ganzen Scheiß. Außerdem bin ich eher der introvertierte Typ. Dass ich nun die Öffentlichkeit suche, ist für mich, als würde ich die Hose herunterlassen.
Ich bin seit vierzig Jahren chronischer Schmerzpatient, seit seinerzeit mit Anfang fünfzehn eine Operation ziemlich daneben ging. Seitdem steht Oxycodon, ein semisynthetisches Opioid, das in Wirkung, Nebenwirkung und Suchtpotenzial dem Heroin sehr ähnlich ist, im Schrank.
Seinerzeit gab es noch keine Retardtabletten. Die damaligen Tabletten gaben ihre Wirkung direkt vollumfänglich ab. Nach der Operation dachte ich zunächst, es würde an der Narkose liegen, dass ich mich seltsam fühlte. Auf die Idee, dass es an dem Oxycodon lag, wäre ich nie gekommen. Man sagte mir, das sei gegen die Schmerzen. That’s it. Was gegen Schmerzen ist, fand ich gut.
Bis dato hatte ich keinerlei Kontakt zu Drogen (außer Alkohol 🙂 ). Dass dieses seltsame Gefühl, das mich von nun an umgab, nichts anderes war als das, was man als „high sein“ bezeichnet, war mir nicht klar.
Mir war nur klar, dass etwas anders war. Und dass von nun an vieles anders war. Vom Gymnasium ging es ab auf die Realschule, um dann auch dort zu scheitern. Mein Vater besorgte mir einen Ausbildungsplatz. Von Medikamenten durfte ich nichts erzählen. Also erzählte ich nichts – und scheiterte auch dort. Still.
Ich erinnerte mich daran, wie ich im Krankenhaus das Oxycodon verabreicht bekam. Eine Pflegefachkraft legte mir die Tablette direkt auf die Zunge. Dann musste ich trinken. Anschließend wurde mein Mundraum inspiziert. Ich fragte damals, warum das so gemacht wird. Die Antwort war: damit ich nicht auf die Idee komme, die Tabletten zu sammeln, um etwas Dummes zu machen.
Ich fühlte mich wie „etwas Dummes“. Aber Tabletten gesammelt habe ich nie. Warum auch? Ich bekam ja von nun an die Großverbraucherpackungen auf Rezept. Eine Packung reichte, um dreimal etwas Dummes zu machen. Und etwas Dummes zu tun, war zu diesem Zeitpunkt definitiv eine Überlegung. Mein Leben war aus den Fugen geraten.
Es folgten Krankenhausaufenthalte und weitere Operationen im Halbjahresrhythmus. Tatsächlich ging es mir drei Jahre nach der misslungenen Operation wieder besser. Was nicht heißt, dass ich deswegen auf Oxy verzichten konnte. Das blieb weiterhin auf Rezept. Viel wichtiger war: Ich fand einen Betrieb, der an mich glaubte – trotz vieler Ausfälle meinerseits. Ich machte also erneut eine Ausbildung. In einem Beruf, den ich wollte. Dass ich trotz Bestehens von meinen Noten enttäuscht war, wurde schnell egal. Endlich hatte ich mal etwas geschafft.
Auf dem Arbeitsmarkt dann zu bestehen, war schon schwieriger. Meine ständigen Ausfälle machten mich zu teuer. Neuerliche gesundheitliche Probleme ließen manch beruflichen Traum platzen.
Ich wollte nie etwas anderes, als das, was die meisten wohl auch wollen: sein Leben meistern, etwas erreichen, eine Familie. Dass andere da eine bessere Startmöglichkeit hatten – who cares. Einen Führerschein brauchte ich nicht, weil ich kein Auto fahren durfte. Lebensversicherung, Bausparvertrag waren aufgrund meiner gesundheitlichen Situation zu teuer.
Oftmals war mein Leben ein Leben „von der Hand in den Mund“. Doch habe ich niemals Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder ähnliche Hilfen beantragt. Auch meinen Behindertenausweis habe ich erst seit rund fünfzehn Jahren. Ich wollte nicht behindert sein. Ich wollte keine Hilfe. Meinen desolaten Rücken betrachtete ich als eingebaute Achillesferse.
Es wird Zeit, einen Sprung zu machen.
Im Jahr 2000 wird meine erste Tochter geboren. 2007 folgt meine zweite Tochter. Die Taufe wird gleichzeitig zur Hochzeit. Wobei ich erwähnen sollte, dass meine erste Tochter aus einer früheren Beziehung stammt. Irgendwann absolvierte ich eine zweite Ausbildung. Bei einem von meinem Arbeitgeber finanzierten Studium scheiterte ich aber wieder.
Denn nun kamen weitere Erkrankungen dazu: Hodenkrebs, der in die Lymphdrüsen streute. Vermutlich als Folge der Chemotherapien dann chronische Erschöpfung (Fatigue) und Polyneuropathie. Bei Letzterem fand ich es spannend, wie viele Jahre es gedauert hat, bis darüber gesprochen wurde, dass ich eine Polyneuropathie habe – und dass dies eine Folge der Chemo sein könnte. Stattdessen gab man jahrelang meiner eingebauten Achillesferse die Schuld.
Mit den Jahren folgten noch Epilepsie und das Restless-Legs-Syndrom. Mein Medikamentenbedarf wuchs und wuchs. Und spätestens mit der RLS-Diagnose stieg auch mein Oxycodon-Bedarf stark an. (Oxycodon ist seit 2014 nicht nur für starke Schmerzen, sondern nun auch für RLS zugelassen.)
Doch es gibt etwas, was mich viel mehr aus der Bahn geworfen hat: 2016 wurde meine älteste Tochter, damals noch minderjährig, zum Opfer eines Gewaltverbrechens. Natürlich ist vor allem meine Tochter das Opfer. Doch möchte ich sagen, dass mir nichts mehr Schmerzen bereitet hat als das Geschehene – auch rund um die Tat.
Da habe ich wieder daran gedacht, etwas Dummes zu tun. Mein Versuch, mir Hilfe zu suchen, hat mir Telefonnummern gebracht.
Nun bin ich auf der Zielgeraden meines Lebens angekommen. Ich gelte als zu Ende diagnostiziert, als austherapiert. Spätestens seitdem ich auch Cannabis auf Rezept bekomme, bin ich auf dem Abstellgleis der Medizin. Ich merke, wie ich nicht nur körperlich, sondern auch geistig abbaue.
Freunde gibt es keine mehr. Seit dem 20.12.24 bin ich geschieden. Meine Frau hat geerbt und schmeißt mich raus. Ich brauche bis 30.6.25 eine Wohnung. Besser Früher als Spät. Der nächste Krankenhausaufenthalt steht auch wieder an. 980€ Rente ist der Lohn für den Weg bis hierhin. Die Angst vor Obdachlosigkeit gibt es gratis dazu. Trotzdem möchte ich nicht betteln, sondern in die Zukunft schauen.
Ich möchte diesen Blog nutzen, um ein paar Dinge zu erzählen, die ich noch nie erzählt habe. Wenn ich sie jetzt nicht erzähle, werde ich sie wohl nie wieder erzählen.
Dinge, die viel mit Erfahrung und dem Umgang mit Schmerzen zu tun haben.
Gleichzeitig möchte ich diese Seite nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht nur in den USA Opfer von Oxycodon gibt. Ich bin nur einer. Ich bin sicher, da draußen sind viele.
Es gilt, etwas zu verändern. Firmen wie Mundipharma fahren Milliarden-Gewinne ein, und auf der Homepage dieses Unternehmens kommt der Begriff „Patient“ maximal dreimal vor. Eine Lobbyvereinigung wie die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin trägt das Siegel eines gemeinnützigen Vereins, besitzt aber nicht einmal ein Patientenportal.
Niemand setzt sich für uns ein. Also müssen wir das selber machen. Lasst uns gemeinsam eine Strategie entwickeln – für Patientenlobbyismus, gegen Pharmalobbyismus, für Opferentschädigung. Für eine gemeinnützige Pharmaindustrie mit tatsächlicher Aufklärung.
Vielen Dank für eure Zeit.
Markus
P.S. In den zwei Geschenkkörben befindet sich meine monatliche Ration an verschriebenen Medikamenten.
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